Herr W.’s Welt ist vor drei Monaten total durcheinander geraten. Sein Schwager starb plötzlich durch Herzversagen. Nun hat er nur noch seine Schwester. Seine Eltern sind schon lange verstorben.
Herr W. schläft nicht mehr gut, steht nachts oft auf und schreit, wirft mit Sachen, ist manchmal «durch den Wind» und leidet offensichtlich vermehrt unter Ängsten. Seit dem Tod seines Schwagers ruft er jeden Abend seine Schwester an, um mit ihr zu «reden». Das ist für ihn eine grosse Herausforderung, denn Herr W. verfügt kaum über Lautsprache. Er macht sich grosse Sorgen um seine Schwester.
Die Institution, in der Herr W. schon viele Jahre lebt und arbeitet, ist für Trauerphänomene sensibilisiert. Das Team und die Leitung wissen, dass Trauer ein Auslöser für herausforderndes Verhalten von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung sein kann.
Herr W. und ich kennen uns bereits. Ich habe ihn vor 4 Jahren schon einmal in seiner Trauer begleitet. Auch damals hat er heftig reagiert im Alltag, als er in seinem nahen Umfeld einen Verlust durch Tod miterlebt hat.
Nachdem Herr W. ausdrücklich sein OK gegeben hat, dass ich kommen und ihn wieder begleiten soll, sitzen wir nun da am Tisch im Wintergarten des Wohnheims. Er und seine Beiständin sind einverstanden, dass ich unsere gemeinsame Arbeit filmen und Ausschnitte davon zeigen darf. Für meine Sensibilisierungsarbeit in der Gesellschaft und für meine Schulungen von Fachpersonen in der Begleitarbeit.
Die Arbeit mit der Methode GLL
Unser Einstieg ist einfach, da Herr W. die Arbeit mit GLL schon kennt und das Vertrauen schon da ist.
Ich erkläre Hr. W. zuerst nochmals, wie die Trauerbegleitung funktioniert. Er hört mir interessiert zu und nickt erwartungsvoll. Wir werden 7 x zusammenarbeiten und uns auf die Suche nach seinen Gefühlen machen. Beim letzten Termin, zur Abrundung wird es eine schöne Feier geben.
Bei diesem ersten Treffen geht es um Herzgefühle. Dafür entwickeln wir gemeinsam ein Bild in der Herzform. Herr W. lässt sich dank dem klaren GLL-Ablauf ganz gezielt zu seinen Ressourcen führen.
Gleichzeitig finden wir aber auch heraus, was genau der Verlust für ihn bedeutet. Auch ohne Sprache kann Herr W. auf diese Weise “erzählen” was sein Herz bewegt. Dazwischen machen wir eine Pause, weil diese tiefe Gefühlsarbeit anstrengend ist.
Schritt und Schritt gestaltet sich sein Herzbild in dieser Stunde. Er bekommt nicht nur Raum und die Chance für einen Ausdruck seiner Gefühls- und Verständnis-Welt, sondern er bekommt die Möglichkeit, seine innere Welt anderen Menschen zu zeigen und dafür Zuspruch und Anerkennung zu erhalten.
Das ist der Trost, den trauernde Menschen brauchen und so oft vermissen. Das ist auch für das Umfeld eine Gelegenheit, ihre Empathie für Herr W. zu zeigen und ihn tatsächlich zu verstehen.
Am Schluss dieser Stunde kann er wählen, ob er beim nächsten Mal lieber Wutgefühle oder Trauergefühle entdecken möchte. Er entscheidet sich für die Wut. Als ich ihn frage, ob er dieses Gefühl kennt, nickt er bestimmt und lächelt verschmitzt.
Dann nimmt er stolz sein Herzbild mit, um es seinen Mitbewohner*innen und den Begleitpersonen zu zeigen. Er winkt mir zum Abschied und will sich erst einmal in seinem Zimmer ausruhen von der anstrengenden Stunde.
Reflexion
Auf der Rückfahrt habe ich viel Zeit, den Entstehungsprozess dieser ersten Begleitstunde in mir nachwirken zu lassen. Auch wenn ich unzählige Prozesse begleitet habe, ist doch jeder einzigartig und überraschend. Auch wenn die GLL-Trauerbegleitung der vorgegebenen Methodik folgt, so gestaltet doch der Mensch seinen Prozess selbst.
Dass es möglich war, Herr W. in diesen 60 Minuten zu seinem inneren Erleben zu leiten und es ihm möglich war, all die Fragen auf seine Weise zu beantworten, berührt mich tief. Er war hoch kompetent im Aufzeigen seiner – durchaus angemessenen – Realität. Denn die erste Frage bei der Begleitung ist immer, ob es dem trauernden Menschen (schon) möglich ist, von einer Trauertiefe zur anderen zu wechseln.
Ich erlebe, dass oft Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung – aber auch Kindern – diese Kompetenz nicht zugetraut wird, bzw. nicht erkannt wird. Mit den geeigneten Mitteln und Fachwissen jedoch, ist es durchaus möglich, ihre emotionale Kompetenz – in ihrem Bereich des Möglichen – sichtbar zu machen und weiter zu entwickeln.
Nach so einer Begleitstunde fühle ich mich nicht nur im Herzen tief berührt und dankbar, dass ich Teil der Welt eines Menschen werden durfte. Ich fühle mich auch bestärkt, meine Arbeit und Methode nun nach 15 Jahren mit einem nachhaltigen Ausbildungsprogramm weiter zu geben.
So lange ich kann, werde ich mich dafür einsetzen, dass Menschen in Verlustkrisen eine Begleitung bekommen, die ihre Gesundheit umfassen fördert, auf allen Ebenen.
Was ist Gefühle.Leben.Lernen.® GLL?
Von Verlusten und traurigen Ereignissen erzählen ist schwierig. Manchmal fehlen Worte oder ein geschützter Raum für Gefühle.
GLL wurde entwickelt um Kinder, Jugendliche und Erwachsene – auch mit kognitiver Beeinträchtigung – im emotionalen Umgang mit Abschied, Verlust und Trauer nachhaltig zu unterstützen. Die GLL-Methodik mit ihren Werkzeugen hilft, schwierige Lebensereignisse und Gefühle zu ordnen und auszudrücken.
Mit Hilfe eines standardisierten, methodischen Vorgehens, durchlaufen die Teilnehmende den GLL-Prozess. Eines der Basis-Elemente sind die fünf GLL-Gefühlformen.
Die GLL-Methode ist wissenschaftlich erforscht. Sie gründet auf dem Konzept des Kohärenzempfindens aus der Salutogenese von A. Antonovsky.
Wenn auch Sie Menschen mit Beeinträchtigung in herausfordernden Lebenssituationen, wie Verlustkrisen begleiten möchten, informieren Sie sich über die GLL-Ausbildung oder fragen Sie mich einfach an über www.emotionskultur.ch